Für diese Woche Chemo klappt es nicht mit einem Einzelzimmer. Ich werde mich also auf einen Bettnachbarn einstellen und mein Schicksal ein Stück weit teilen und an eines anderen Schicksal teilnehmen. Mir fällt auf, dass die Gideon-Bibel im Halter an der Wand fehlt. Hat da tatsächlich jemand nach der Bibel gegriffen, die hier in jedem Zimmer neben der Eingangstür angebracht ist? Ja, tatsächlich, die Bibel liegt auf dem Nachttisch meines Zimmergenossen zusammen mit einem Losungsbuch. Am nächsten Morgen liest er Losung und Lehrtext und als ich ihn darauf anspreche, liest er mir vor und auch noch aus der Bibel den Lesungsabschnitt für den Tag, obwohl er gar nicht wissen konnte, ob mir das recht ist. Mir war es recht und ich muss eingestehen, dass ich den Mut bisher nicht aufgebracht hatte.
Im Verlauf der Woche erfahre ich dann eine Lebensgeschichte. Wie immer, wenn Achtzigjährige erzählen, hat ihre Geschichte ihren Mittelpunkt in den fünfziger Jahren. Was dann noch kam, erscheint nur noch als Nachsatz. Er hat viel Grund, dankbar zu sein. Sechs Kinder hat ihnen Gott geschenkt und zusammen mit Nachbarskindern tobten nicht selten mehr als ein Dutzend Kinder auf ihrem Hof. So gut ging es ihnen damals. Den Kindern geht es heute auch gut. Sie haben studiert, sind in höhere Positionen aufgestiegen und jetten kreuz und quer durch Europa. Von sechs Kindern hat er vier Enkel. Wohlstand und Glück wird in der nächsten Generation offenbar anders verstanden.
Eines Morgens steht für die Bibellese die Geschichte an von dem Blindgeborenen, den Jesus heilt am Wegesrand, damit die Werke Gottes offenbar werden. Resigniert bemerkt mein Nachbar: “Wenn Jesus heute da wäre, könnte er uns auch heilen.” Am Schreibtisch hätte ich schnell einige Antworten gehabt. Jesus ist auch heute da. Er hat doch versprochen: “Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!” Und Jesus heilt auch heute. Er benutzt die Kunst der Ärzte. Und wenn er uns eine Krankheit zum Tode schickt, dann weiß er auch warum. Dann dürfen wir uns auf das ewige Erbe für seine Kinder freuen... Aus dem Krankenhausbett heraus kommen die Antworten nicht mehr so prompt wie am Schreibtisch. Warum soll gerade meine Lebenszeit schon abgelaufen sein? Und im höheren Alter stellt sich offenbar die Frage: Wenn ich bald sterben muss, warum gerade an Leukämie und nach langem Aufenthalt in den Kliniken? Der Glauben sagt: Gott gibt auch heute und er nimmt, damit die Werke des Herrn offenbar werden. Nur fällt es nicht leicht zu erkennen, auf welche Weise die Ehre Gottes in Krankheit, Verfall und Leid offenbar werden.
Am Freitag wird mein “Raumteiler” entlassen. Schon am Nachmittag schieben die Schwestern ein neues zweites Bett in mein Zimmer. Ich bekomme einen neuen Nachbarn. Bei ihm entpuppte sich ein Pickel an der Nase als ein bösartiges Geschwür. Die Hälfte der Nase musste weg. Zwar hat man ihm eine Art Prothese an die Nase gesetzt, aber das ist nur ein schwacher Ersatz. Die Gefühle sind wohl kaum nachzuempfinden, wenn das Gesicht dermaßen entstellt wird. Da ist der Verlust der Haarpracht vergleichsweise leicht zu verschmerzen. Die Nase wächst nicht nach. Was mich noch trauriger macht ist die Tatsache, dass mein neuer Nachbar sich in seiner Not offenbar nicht an seinen Gott klammern kann. Die Ärzte machen ihm wenig Hoffnung. Als nächstes zeigen die Lymphknoten am Hals bösartigen Befall. Bestrahlung, Chemotherapie und ... warten, bis der Krebs siegen wird. Wer weiß hier noch Trost zu spenden?
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