Vertreiben sich Fremde die Zeit mit einer Diskussion über ihre Blutwerte, dann sitzt man vermutlich im Wartezimmer einer onkologischen Arztpraxis. Ich höre mir an, wie es den beiden Damen neben mir ergangen ist mit Hämoglobinwerten unter acht. “Man fühlt sich den ganzen Tag lang schläfrig und antriebslos und in der Nacht will sich der Schlaf nicht einstellen, weil man am Tag zu viel geschlafen hat.” So kenne ich das auch und beschließe mitzureden. “Ja, man fühlt sich wie im Hochgebirge auf über 3000m.” Damit können die Damen nichts anfangen. Noch ein Versuch: “Ich schleiche durch die Wohnung wie ein 80jähriger.” Das findet zumindest die eine nicht lustig, da sie dem Augenschein nach von diesem Zustand nicht mehr weit entfernt ist - auch ohne Blutarmut. Also gut, dann verlege ich mich wieder auf das Zuhören. Die eine Dame erläutert ihre Lösung für das Problem. Von Bekannten wurde ihr ein Kristall empfohlen. Jetzt trägt sie diesen Stein an einer Kette immer um den Hals - und siehe da, ihre Hämoglobinwerte pendelten sich bei gesunden dreizehn ein. Was soll man davon halten? Hat ihr Körper tatsächlich auf den Kristall reagiert? Ist es der Glaube an die Macht der Kristalle, der für schnelle Blutbildung sorgt oder wären ihre Blutwerte auch ohne den Stein wieder gestiegen? Rings um die Diagnose Krebs blüht der Aberglauben. Je auswegloser die Lage erscheint, desto mehr vertraut man auf Wunderheilmittel.
Ich habe bei zu geringen roten Blutkörperchen bisher auf das Mittel der Ärzte vertraut - Bluttransfusion. Zwei Beutel mit “Erythrozyten” als Infusion in den Blutkreislauf erfordern zwei Stunden sitzen und warten, bis der rote Saft in die Venen getropft ist. Das bewirkt Wunder. Plötzlich kommt die Kraft zurück und man fühlt sich von früherem Tatendrang eingeholt.
Eine solche Bluttransfusion erinnerte mich an Worte aus dem Propheten Jesaja, in denen neue Kraft beschrieben wird mit einem Bild aus der Natur.
- Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden. (Jes 40, 30-31)
Das Vertrauen auf Gottes Hilfe und Führung kann neue Kraft schenken, die in die Höhe fliegen lässt wie auf Flügeln von Adlern. Von dort oben, erscheinen unsere Sorgen und unlösbaren Probleme dann klein und leicht zu überwinden. Was aber wenn eine unheilbare Krankheit das Leben zerstört? Was helfen dann noch die Flügel von Adlern? Was ändert das Vertrauen auf Gott, wenn er offenbar doch nicht eingreift in das zerstörerische Werk der Natur? Die Adler fliegen so hoch, dass sie über die Berge schauen können, die uns am Horizont den Blick verstellen.
Die auf den HERRN harren, schauen im Glauben hinüber. Sie wissen von der Freude, die Gott uns nach diesem Leben in der Ewigkeit schenken will, in einer Welt ohne Mühsal und Leid, ohne Krankheit und Tod. Mit diesem Blickwinkel verlieren die Leiden dieser Zeit ein Stück ihrer Schrecken.
Dann bin ich dran mit der Blutkontrolle und bekomme eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute bezieht sich auf die weißen Blutzellen - die sind wieder da und am Steigen. Meine Immunabwehr kommt also wieder in Gang. Die schlechte Nachricht: der Hämoglobinwert liegt auf glatt sieben. So tief war er lange nicht. Damit ist klar, warum ich mich so schlapp fühle. Mitten in der Chemotherapie wäre jetzt eine Bluttransfusion angesagt gewesen, um schnell fit zu werden für den nächsten Hammer. Jetzt, nach der Chemo, drängt der Arzt nicht zu solchen Mitteln. Da ich vor der letzten Bluttransfusion tatsächlich den Zettel mit den Risiken und Nebenwirkungen gelesen hatte, bin ich auch nicht scharf drauf. Also wird’s nichts mit den Adlersflügeln für diesmal - jedenfalls nicht mit denen aus der Blutkonserve.
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