Montag, 27. September 2010

Von den Grenzen der Schulmedizin

Punkt neun steht das Taxi vor der Tür. Meine Krankenhaustasche ist gepackt. Ich fühle mich gesund und könnte meine letzten Wehwehchen zu Hause ausheilen. Doch nein, der Eindruck täuscht. Da schwirrt möglicherweise noch eine gute Zahl entarteter Zellen in meinem Blut- und Lymphsystem. Noch zwei Blöcke Chemotherapie stehen auf dem Programm, um auch die letzten überlebenden Krebszellen auszuradieren. Also geht’s heute wieder in die Klinik, zum vorletzten Mal und wieder für eine Woche. Der Empfang in der Klinik läuft schleppend. Als ich endlich mein Bett auf der Station habe, steht schon das Mittagessen auf dem Tisch.

Noch bevor ich die Vorsuppe löffeln kann, kommt die Visite in’s Zimmer geschneit. Zwei Ärzte schauen mich unschlüssig an und es wird schnell klar, dass die Herren in Weiß nicht mit mir hinter dieser Zimmertür gerechnet hatten. Wer weiß, ob da gerade jemand verlegt oder entlassen wurde. Der Oberarzt versucht, sich keine Blöße zu geben und fragt nach meinem Ergehen. Als Gesprächseinstieg - so jedenfalls meine Vorstellung - erzähle ich, dass es in der letzten Woche wenig an unangenehmen Nebenwirkungen gab und ich sogar Brennholz “aufgebeigt” habe. Seine Antwort überrascht mich. Ein paar kurze Floskeln bekomme ich zu hören, die vermutlich gut zu einem Treffen mit dem Nachbarn auf der Treppe im Hausflur gepasst hätten. Ob ich mit der Axt in den Wald gezogen wäre, will er wissen. Und schon sind die Ärzte wieder draußen.

Irgendwie spüre ich einen faden Geschmack auf der Zunge, obwohl die Chemo noch gar nicht angefangen hat. Nach meinem Gefühl hätten sich die Ärzte nach meinem Befinden erkundigen sollen, und zwar nicht nur nach den rein medizinischen Aspekten, die sie aus den Blutwerten ablesen können.  Hätten sie sich nicht auch nach meiner Familiensituation erkundigen sollen und den Tagen in der Heimat? Darüber hinaus hätte ich gerne mit ihnen meine Erfahrung besprochen, dass ich in Wangen für die Blutkontrolle eine onkologische Praxis gefunden habe. Man hätte mir erläutern sollen, was in dieser Woche der Chemo auf mich zukommt und worauf ich mich einstellen sollte. Doch all das kommt nicht zur Sprache.

Während ich meine Gabel in die Kartoffeln steche und das Geschnetzelte koste, muss ich meine Gedanken zusammen nehmen. Nein, der erste Eindruck täuscht. Ich werde hier nicht veralbert oder links liegen gelassen. Wie immer werden meine Befunde von dem zuständigen Arzt sorgfältig ausgewertet. Meine Medikamente wurden in der Krankenhausapotheke ganz persönlich für meine Behandlung abgestimmt. Heute Nachmittag noch wird die Behandlung beginnen mit einem Medikament, das erst vor wenigen Jahren auf den Markt gekommen ist, und die Heilungschancen für meine Krankheit um über 20% auf mehr als  80% gesteigert hat. Ja, die Schulmedizin kann mir helfen, und zwar meinem Körper. So eine kleine Panne bei einer Visite darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier auf höchstem Niveau für meinen kranken Körper gesorgt wird.

Doch genau darin zeigen sich die Grenzen der Behandlung in einer modernen Klinik, die Grenzen der Schulmedizin überhaupt. Für den Körper wird gesorgt mit Fachwissen auf nie gekanntem Niveau und mit ständig erweitertem medizinischem Aufwand. Die Sorge für die ganze Person des Patienten mit Körper und Seele findet in dem System der Schulmedizin jedoch keinen Platz und von den Krankenkassen keine Bezahlung.

In einem Gespräch in der vergangenen Woche mit einer homöopathischen Ärztin anthroposophischer Prägung war ich auf dieses Spannungsfeld hingewiesen worden. Die alternativen Heilmethoden haben den ganzen Mensch im Blick und darin liegt die Stärke der Nicht-Schulmediziner. Deren Arzneimittel erscheinen fraglich und ihre Wirkung kann rein statistisch kaum nachgewiesen werden. Und doch spricht so manche Behandlung an, die jenseits des Fachwissens der Schulmediziner von alternativen Heilern angeboten wird. Sie setzen bei der Seele des Patienten an und können sogar auf Medizin verzichten, die am Körper eine nachweisbare Wirkung erzielt.

Es wäre unfair zu sagen, dass die Schulmedizin versagt hat. Im Gegenteil, sie kann beachtliche Erfolge vorweisen, was von alternativen Heilmethoden rein statistisch gesehen nicht gesagt werden kann. Und doch fällt die Schulmedizin im Ansehen der Patienten, gerade dann, wenn schnelle Heilung nicht möglich ist oder sogar die ehrliche Prognose gestellt werden muss: “Wir haben keine Mittel mehr zur Verfügung gegen ihre Krankheit!” Ein so umfangreiches Gebäude der medizinischen Wissenschaft wurde aufgebaut, dass dem Patienten im Krankenbett nicht mehr vermittelt werden kann, was mit ihm in seiner Behandlung gerade geschieht. Die Antworten der alternativen Heiler - und so mancher Scharlatane - lassen sich da viel leichter begreifen und geben die gesuchte Hoffnung - auch wenn diese sich als trügerisch erweisen muss.

Unser Schöpfer hat uns mit einer lebendigen Seele ausgestattet. Beide, Körper und Seele sind beteiligt, wenn es um Krankheit, Gesundheit und Heilung geht. Doch den Zusammenhang von Körper und Seele kann die medizinische Wissenschaft mit ihren Methoden kaum beschreiben. Gott, der Schöpfer unseres Körpers entzieht sich den Methoden der Wissenschaft. Jesus, unser Herr und Heiland kann nur durch den Glauben erkannt werden. Umfassende Heilung kann nur dort geschehen, wo der Draht zu dem besten Arzt geschaltet ist, wo Menschen im Glauben erfassen, dass Krankheit, Heilung und Gesundheit in Gottes Hand liegen. Jesus zeigt in der Geschichte vom Gichtbrüchigen (Markus 2, 1-12), dass ein gesundes Verhältnis zu Gott und damit die Heilung der Seele sogar Vorrang hat vor der Heilung körperlicher Gebrechen. Ein Gelähmter wird mit großem Aufwand zu Jesus gebracht und durch ein Loch im Dach an Seilen vor seinen Füßen abgelegt. Und Jesus sagt ihm: “Dir sind deine Sünden vergeben!” Alle staunen oder ärgern sich. Dazu hätte sich wohl keiner die Mühe gemacht, ein Dach aufzureißen. Und doch: Frieden mit Gott zu haben, das ist das wichtigste. Erst dann sagt Jesus noch fast beiläufig: “Nimm dein Bett und geh heim!”

Ich bin froh, dass durch den erfahrenen Dienst der Ärzte für meinen Körper gesorgt ist. Und es gibt mir Kraft zu wissen, dass so viele zu Gott beten, dass er mir Heilung und Kraft schenkt an Körper und Seele.

Samstag, 25. September 2010

Ängstlich wie die Kinder


Hurra, wir können stehen!
Kinder werden erst interessant, wenn sie einigermaßen reden können. So hatte ich bisher gedacht. Doch unsere Zwillinge belehren mich eines besseren. Es macht offenbar einen Unterschied, ob man fremde Kinder nur gelegentlich sieht, oder ob man Tag für Tag die Entwicklung bei den eigenen Kindern beobachten kann. Töchterchen hat mal wieder den Vorreiter gemacht und sich als erste aus eigener Kraft hochgezogen an den Gitterstäben des Bettchens. Sie kann auf den eigenen Beinchen stehen. Inzwischen beherrscht Sohnemann den Trick auch. Dabei benutzt er eine ganz andere Technik als seine Schwester. Aus dem Vierfüßlergang streckt er die Beine aus und dann braucht er eine Treppenstufe oder die gute alte Zeitungskiste neben dem Ofen, um sich aufzurichten. Dann stehen sie und freuen sich über die neue Perspektive. Nur eins fehlt ihnen noch. Sie haben noch nicht den Mut, einen Fuß vor den anderen zu setzen. An die Idee, dass Gott die Beine zum Fortbewegen gegeben hat, trauen sie sich alle beide noch nicht heran. Sollen wir ihnen zeigen, wie man läuft? Nun, bisher haben sie all die Tricks selbst herausgefunden, die wir ihnen mühsam beibringen wollten vor der Zeit. Alle Mühe war umsonst, die Kinder anzuregen, gezielt nach Spielzeug zu greifen. Plötzlich konnten sie es von selbst. Auch das Hinsetzen konnten wir ihnen nicht beibringen. Als die Muskeln stark genug waren, taten sie es von selbst. Ich gehe mal davon aus, dass die ersten Schritte auch kommen werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Schließlich sind die beiden gerade mal neun Monate alt. Ob ich auch so viel Mühe hatte, laufen zu lernen? Zum Glück habe ich meine Erinnerungen an diese Plackerei verloren.

Übrigens hat die Kunst, gezielt greifen zu können, ganz konkrete soziale Folgen. Töchterchen nimmt ihrem Bruder mit einem gezielten Griff den Schnuller weg oder das Spielzeug, mit dem er sich gerade beschäftigt. Der Kleine bewegt seine Hände dann aber zu tollpatschig, um das Verlorene zurückerobern zu können. Tränen gibt es aber kaum - bisher. Schließlich liegt genügend Spielzeug herum um und die Aufmerksamkeit von Schwesterchen hat sich bald auch wieder anderen Dingen zugewendet und der Kleine findet seinen Schnuller unbeachtet auf dem Boden liegen.

Allein sein wollen die beiden nicht. Solange sie gemeinsam spielen, können wir nach nebenan gehen. Doch wenn Claudia ein Kind nach oben genommen hat zum Wickeln oder Baden, dann braucht das andere den Blickkontakt zum Papa. Ansonsten geht das Gebrüll los. Dabei muss ich nur auf die andere Seite des Ofens gehen oder in die Küche und kann sogar noch durch reden oder singen auf mich aufmerksam machen. Es hilft nichts, die Kleinen bekommen scheinbar Angst, wenn sie niemanden mehr sehen.

Die Bibel verwendet oft die Kinder als Vergleich für unser Verhältnis zu Gott. Hier liegt wohl auch ein Vergleichspunkt. Wir wollen Gottes große Werke in unserem Leben sehen und spüren. Sobald ER schwere Tage zulässt und Schicksalsschläge schickt, dann muss er wohl in den Urlaub gegangen oder mit etwas anderem beschäftigt sein. So denken wir ganz kindlich. Dabei ist Gott immer in Rufweite und schläft und schlummert nicht. Nur unser Blick scheint manchmal so kurzsichtig zu sein wie bei den Babies, die sich verlassen fühlen, wenn niemand mehr in Sicht ist.

Donnerstag, 23. September 2010

Ein Vorrat für viele Wintermonate

beiga: schlichten, stapeln” so erklärt das Schwäbischwörterbuch den Sinn eines Wortes, das in diesen Tagen im Schwabenland Hochkonjunktur hat. Der Winter naht, auch wenn keiner daran denken möchte. Bis dahin will genügend Holz in der “Beige” aufgebeigt haben, wer auf gut schwäbische Art das Geld für’s teure Heizöl spart und seine Stube mit Holz heizt. Wir tun’s auch und so galt eine meiner Aktivitäten während des Heimaturlaubs dem Holz. Fünf Meter (Raummeter, wie der Holzhändler sagt) bekamen wir geliefert. Im Vorfeld hatte ich mir schon Sorgen gemacht, wer das “aufbeigen” übernehmen könnte und ob wir jemanden zu Hilfe rufen sollten. Doch dann war meine Frau beinahe enttäuscht, dass ich ihr so wenig übrig gelassen habe von der urschwäbischen Arbeit. Ja, tatsächlich, es ging. Die alten Kräfte sind noch nicht zurück, doch sie kommen wieder. Ich fühle mich unsicher. Wie viel an körperlicher Arbeit kann ich mir abverlangen? Wann würde ich mich überfordern und die Heilung gefährden? Die Ärzte haben mir nahe gelegt, mich viel zu bewegen und den Körper wieder in Schwung zu bringen. Da kommt das Brennholz gerade recht und produziert wohltuenden Muskelkater. Besser als auf dem Sofa sitzen sind solche Aktivitäten wohl allemal. Und da die Brennholzfirma nicht alles Holz an einem Tag liefert, kommt mir’s gerade recht. So kann ich den Rest der Arbeit auf morgen vertagen.

Schließlich ist alles Holz drin - gutes, trockenes Buchenholz in langen Scheiten - und ich verschraube die Gitter vor der Beige wieder. Fertig. Da kommt mir der Gedanke: jetzt kannst du ruhig auf den Winter warten - du hast einen Vorrat auf viele Monate. Vielleicht reicht es sogar noch bis zum nächsten Winter. “Iss und trink und habe guten Mut”. Ups, das waren die Gedanken vom “reichen Kornbauern” aus dem Lukasevangelium. Jesus kommentiert diese Art von Vertrauen auf die großen Vorräte: “Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Und wem wird dann gehören, was du aufgehäuft hast?”

Ja, wer wird das Holz verfeuern, das ich so mühsam aufgebeigt habe? In den vergangenen Jahren habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Mein Holz verheize ich. Doch mit den potenziell tödlichen Krebszellen im Blut sieht die Rechnung anders aus. Mir steht die Warnung von Jesus klarer vor den Augen. Es kann schnell sein, dass Gott meine Seele von mir fordert. Dann bleiben alle Vorräte zurück, die ich mir gesammelt habe.
 Nicht nur Krebszellen bedrohen unser Leben. Auch durch Unfälle oder Herzinfarkte kann Gott unerwartet unsere Seele einfordern. Wer will schon da stehen wie der reiche aber unkluge Kornbauer, dem die Warnung galt: "So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott." (Lukas 12, 21)?

Dienstag, 21. September 2010

Red mir nicht vom Krebs

Diesmal empfing uns das Allgäu mit wunderbarem Sonnenschein. So ließen wir all das, was zu Hause zu erledigen war, zunächst liegen und machten uns auf in Richtung Bodensee. Ein Ausflug nach Bregenz brachte einiges an Standzeit in der Blechlawine, die sich auch in der Nachsaison noch um den Bodensee schlängelt. Wie gern wäre ich schnell mal in’s Wasser gesprungen. Doch für solche sportlichen Einlagen reicht die Kraft nicht und außerdem würde sich Baden auch in wärmeren Gewässern verbieten wegen meinem Anschluss am Oberarm. Von dort könnten Keime direkt in den Blutkreislauf gelangen. So beschränkten wir uns darauf, die Kinder Seeluft schnuppern zu lassen und sie zu Fütter - mit Blick auf das Wasser. Leider fehlt den Kleinen noch der Blick für die wunderschöne Landschaft.

Ein weiterer Ausflug führte uns dann auf den Pfänder. Für Ortsunkundige: so heißt der Bergrücken, der zwischen Lindau und Bregenz fast bis in den Bodensee hinein ragt. Von dort oben gibt es bei gutem Wetter einen wunderbaren Ausblick über den See und auf das Panorama der Berge. Bisher stellte ich mein Auto irgendwo in den Dörfern ab und dann ging es auf Schusters Rappen durch die Landschaft bis hin zum Aussichtspunkt an der Pfänderbahn. Diesmal stellten wir das Auto auf dem letzen öffentlichen Parkplatz ab und gingen nur die letzten Meter den Berg hoch. Natürlich, wie will man mit dem Kinderwagen anders vorankommen? Doch der Kinderwagen war nicht das einzige Hindernis für eine Wanderung. Mir geht es nach dem 4. Block Chemo zwar erstaunlich besser als nach den vorigen. Die Kräfte kommen scheinbar langsam wieder. Trotzdem zeigt sich gerade bei sportlichen Aktivitäten, wie sehr mein Aktionsradius eingeschränkt bleibt.

Auf dem kurzen Spaziergang zur Aussichtsplattform ergab sich eine Situation, die vielleicht typisch ist für das Leben mit der Krankheit. Meine Frau schob den Kinderwagen mit den Zwillingen den Berg hoch. Ich lief hinterher und versuchte trotz anfänglicher Atemnot doch Schritt zu halten. Von hinten kam in zügigem Schritt eine Gruppe Wanderfreunde mit Vereinsabzeichen und perfekter Ausrüstung herangestürmt. Und schon hörte ich spitze Bemerkungen, ob denn das der Papa sei, der da seine Frau den Kinderwagen schieben lässt. Offenbar hatten sie meinen Bandana nicht als Zeichen für den Kampf gegen den Krebs gedeutet und womöglich den etwas abgelebten Motorradrocker vermutet, der ohne seinen Feuerstuhl nicht mehr so recht voran kommt. Sollte ich die Witzelei einfach überhören und mich vielleicht still darüber ärgern? Ich griff mir den sportlichsten der alten Herren und schenkte ihm klaren Wein ein. “Es ist noch nicht so lange her, dass auch ich flink unterwegs war. Das ging bis der Arzt mir sagte, dass ich Krebs habe. Seither laufe ich etwas langsamer.” Damit war die ausgelassene Stimmung verflogen. Einer versuchte mich am Arm zu nehmen und unterzuhaken. Ein anderer bot meiner Frau an, beim Schieben zu helfen. Und dann haben sie schnell ihre Wanderstöcke geschwungen und sich auf und davon gemacht. O.k. das war womöglich gemein von mir. Hoffentlich habe ich den Herren vom Wanderverein nicht den Tag verdorben.

Trotzdem, darf man in der Öffentlichkeit von seiner Krankheit reden? Betroffene Gesichter sind die Folge und meist Sprachlosigkeit. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass wir als Betroffene deutlich besser mit der Krankheit umgehen können als die Gesunden. Krankheiten generell - und gerade diese potentiell tödliche - passen nicht in unsere erfolgsorientierte Zeit. Am Anfang hatte ich mich gewundert über die Rücksicht, die man mir teilweise entgegen brachte. “Werde jetzt erst mal wieder gesund. Ich will dich nicht stören.” Das waren Reaktionen auf Anrufe oder Einladungen. Und der Verdacht kommt auf, dass es sich bei dieser Art von Rücksichtnahme um Selbstschutz handelt. Man will nicht konfrontiert werden mit Krankheit und Verfall.
Sicherlich trifft das nicht nur auf Krebskranke zu. Die Einsamkeit in den Alten- und Pflegeheimen hat die gleichen Wurzeln. Einer meiner Zimmernachbarn berichtete mir von seinem Schwager, der seine Frau und das Baby nach einem Kaiserschnitt nur ein einziges Mal in der Klinik besucht hat. Er kann die Krankenhausluft nicht ertragen.

Wenn ich in der Klinik über die Station laufe, treffe ich auf jede Menge Leidensgenossen mit erheblichem Gesprächsbedarf. Man muss nur das Thema kurz antippen und bekommt eine lange Krankengeschichte erzählt. Ich kenne das schon vom Taxi-Fahren. Eigentlich geht den Taxifahrer  die Krankengeschichte ja nichts an. Und doch waren meine Fahrgäste so schnell bei ihrem Thema. Nur wenige waren geneigt, ein Gespräch über sonstige Nebensächlichkeiten zuzulassen. Niemand will an Krankheit erinnert werden und niemand scheint zuzuhören. Darf man von der Krankheit reden? Aus Rücksicht auf die Gesunden werden viele von ihrer Krankheit schweigen. Wie viel Zurückhaltung tut gut - besonder gegenüber sportlichen Wanderfreunden, die ihre Gesundheit mit stramm gebundenen Kniebundhosen feiern?

Montag, 20. September 2010

Arzt in Heimatnähe

Als Familie gewöhnen wir uns an meinen Drei-Wochen-Rhythmus: In der ersten Woche muss ich in die Klinik zur Chemotherapie. In der Zeit wohnt Claudia mit den Kindern bei ihrem Bruder in Wart. Die zweite Woche bringt dann meine Entlassung und einige Tage fast Bettruhe ebenfalls in Wart mit zwei Fahrten nach Sindelfingen zur Blutkontrolle. Wenn alles gut läuft, können wir dann in der dritten Woche nach Hause in’s Allgäu fahren bis die nächste Chemo ruft.

Nach dem 4. Block der Chemo deutet sich jetzt eine kleine Änderung in diesem Rhythmus an. Ich habe mich schon länger gefragt, ob ich wirklich wegen jeder Blutkontrolle in die Klinik nach Sindelfingen fahren muss. Labors gibt es doch schließlich in jedem Krankenhaus. Doch selbst auf wiederholte Nachfrage war mir in der Klinik eher abgeraten worden, mich für die Tage zwischen den Chemo-Blöcken nach einem Arzt in Heimatnähe umzusehen. Draußen im fernen Allgäu traute man meine Betreuung niemandem zu. So blieben wir bisher in Wart im Schwarzwald und die Krankenkasse bezahlte mir die 45minütige Taxifahrt zweimal in der Woche nach Sindelfingen zur Blutkontrolle. Nur, wenn sich die Blutwerte von dem zu erwartenden Tief nach der Chemo erholt hatten, ließ man mich in die Heimat fahren. Doch dafür blieb kaum Zeit.

Diesmal nahm ich im Vorfeld Kontakt zu einer onkologischen Praxis in Wangen auf und verlegte die Termine zur Blutkontrolle in der zweiten Woche Freigang auf eigene Faust nach Wangen. Und siehe da, die Ärzte hier wussten recht gut mit meiner Behandlung umzugehen. Der leitende Arzt bemerkte nebenbei, dass er das Problem kennt. In seiner frühen Praxis habe er auch Patienten in die Klinik nach München bestellt, obwohl er ihnen damit eine mehrstündige Autofahrt auferlegte. Inzwischen habe er jedoch gelernt, neben dem Blick auf die Blutwerte den auf die Lebensqualität der Patienten nicht zu vergessen. Meine Vermutung, dass mein Blut erst in ein Labor geschickt werden muss und die Ergebnisse womöglich erst am nächsten Tag vorliegen würden, erwies sich als Irrtum. Nach fünf Minuten kam der Arzt mit den Werten - die richtig schlecht ausfielen. Das nennen die Mediziner den Leukozyten-Nadir oder Tiefpunkt der weißen Blutkörperchen. Von da an geht’s wieder bergauf. Bestätigt wurde mir die Richtigkeit der Entscheidung, für die einwöchigen Blöcke der Chemotherapie nach Sindelfingen zu fahren. Auf diese Art von Hochdosis-Chemo sind die Krankenäuser hier in der Gegend nicht eingerichtet.

Nur die Schwestern schauten auf meine PICC-Line (mein “Tankstutzen” am Oberarm, durch den die Infusionen eingefüllt und die Blutproben entnommen werden) mit verwundertem Zweifel. Das hatten sie noch nicht gesehen und schon gar nicht an dieser Stelle. Trotzdem  klappte das Anzapfen und nach der Blutentnahme bekam ich einen geradezu kunstvollen Verband.

Fazit: ich hoffe, nach den verbleibenden Wochen der Chemotherapie in Sindelfingen jetzt für länger Zeit nach Hause nach Wangen fahren zu können. Vor allem hoffe ich freilich, dass ich bald gar nicht mehr in die Klinik muss. Wenn Gott mir Heilung schenkt, dann hat sich der Drei-Wochen-Rythmus erledigt.

Montag, 13. September 2010

Leben nach der Chemo

Kurz vor fünf kommt die Schwester bereits mit den Tabletts für das Abendessen. Ich habe meine Tasche längst gepackt, mich angezogen und könnte schon zu Hause mit den Kindern spielen. “Wollen Sie noch Ihr Abendessen?” fragt sie und bekommt eine patzige Antwort. “Der Arztbrief wäre mir lieber!” Sie kann ja nichts dafür, dass auf Station so manche Abläufe auch mit Bürokratie zu tun haben. Der Arzt muss mir noch meinen Arztbrief zusammenstellen. Eher kann ich dieses heilende Haus nicht verlassen. Leider hat er noch anderes zu tun und ich darf warten. Immerhin hat er sich darauf eingelassen, mich heute noch heim zu schicken. Ursprünglich wollte er mich noch eine Nacht da behalten, da ich heute Nachmittag noch einige Spritzen für das Gehirnwasser in den Rücken bekommen habe. “Intrathekale Gabe” nennt sich das im Fachjargon. Mein Zimmernachbar musste sich das mit ansehen und hat darauf dem Oberarzt die Zusage abgerungen, dass bei ihm so etwas nur unter Betäubung gemacht werden darf. Nun, es sieht wohl schlimmer aus als man es selbst spürt - zumindest, wenn alles gut geht. Wie gut, dass ich hinten keine Augen habe.

Am vergangenen Wochenende hatte der Chefarzt selbst Dienst übernommen und mir einige Infusionen angehängt. Auf die Art bin ich noch zu meiner Chefarzt-Visite gekommen. Dabei kam die Rede auf den Fortgang der Behandlung. Er hätte sich neulich meine Befunde dreimal angeschaut, weil sie so gut aussahen. Ich hoffe, das ist nicht nur eine ermutigende Redewendung. Dann regte er an, in der kommenden Woche schon mal mit den nötigen Stellen Kontakt aufzunehmen, damit ich nach der letzten Chemo eine Heilbehandlung zur Wiederherstellung bekommen kann - was man landläufig eine Kur oder Reha nennt. Drei Wochen würden mir zustehen. Alle schwärmen von Kuren, die immer seltener verschrieben werden. Mir erscheint der Gedanke derzeit nicht besonders verlockend. Nachdem ich den besseren Teil dieses Sommers in Krankenhausbetten zugebracht habe, verspüre ich wenig Verlangen, im Spätherbst nochmal drei Wochen “stationär” zu gehen. Die Hoffnung, wieder normal zu Hause leben zu können, erscheint mir momentan als die beste Kur. Immerhin gäbe es auch die Möglichkeit, an Kurbehandlungen ambulant teilzunehmen. Vielleicht bietet eine der Kurkliniken in unserer Nähe im Allgäu diese Möglichkeit.

Wie auch immer die Reha für mich ausfallen wird, es war eine Wohltat über die Tage nach der letzten Chemo zu reden. Es scheint ein Leben nach der Chemotherapie zu geben. Zumindest halten die Ärzte das in meinem Fall für möglich.

Noch vor um sechs ruft mich der Arzt aus dem Zimmer, das ich eine Woche lang nicht verlassen durfte. Mein Zimmernachbar war aufgrund seiner Blutwerte isoliert worden und ich war mitgefangen bzw. mit ihm “umkehrisoliert”. Und schon halte ich meinen ersehnten Entlassungsbrief in der Hand. Zwei Mal soll ich zur Blutkontrolle in die Ambulanz kommen in den nächsten zwei Wochen und Ende September heißt es dann wieder “stationär”. Na, bis dann “Auf Wiedersehen” in Sindelfingen.

Sonntag, 5. September 2010

Zurück in Richtung Klinik

Wo sind die Tage geblieben, die wir im Allgäu - also zuhause - hatten? Die Zeit verging viel zu schnell. Immerhin, wir konnten Freunde und Bekannte besuchen oder zu uns einladen. Den Grill im Garten haben wir drei Mal angeheizt, sodass die Grillsaison nicht ganz verstreichen musste ohne den Duft von Holzkohle. Ich habe sogar den Pinsel geschwungen und Fenster gestrichen - natürlich nur die Rahmen. Brennholz für den Winter wollten wir auch bestellen und “aufbeigen” - wie man hier sagt. Doch das muss noch warten bis zur nächsten Fahrt nach Wangen. Hoffentlich wird die möglich sein, bevor der erste Schnee kommt.

Die Kinder haben heute geduldig die drei Stunden in ihren Babyschalen im Auto verbracht und verschlafen auf der Fahrt in den Schwarzwald. Jetzt müssen sie sich wieder an ihr kleines aber womöglich vertrauteres Zuhause gewöhnen. Und ich muss morgen früh wieder in die Klinik nach Sindelfingen - für eine Woche, für Block vier der Chemotherapie. Ich muss noch ein Buch aussuchen für die Stunden am Tropf. Wie gern wäre ich in Wangen geblieben. Kann ich die Krankheit nicht einfach ignorieren und wieder gesund sein? Die Signale aus dem Körper zeigen allerdings, dass da noch einiges an Behandlung nötig ist, bis wieder Normalität einziehen könnte.