Sonntag, 21. November 2010

Ewigkeit im Herzen - und in den Genen

In den evangelischen Gottesdiensten wurden heute am Toten- oder Ewigkeitssonntag die Namen der Verstorbenen des vergangenen Jahres verlesen. Sie sind uns vorausgegangen in die Ewigkeit. In vielen Fällen beendete irgend eine Form von  Krebs das Leben. Das ist der Gang der Dinge - so habe ich bisher gedacht. Doch in diesem Jahr wäre mein Name beinahe mit verlesen worden. Ein kleiner Fehler der Ärzte hätte ausgereicht.

Welche Gefühle und Gedanken weckt die Erinnerung an die Ewigkeit? "Ewigkeit" macht kein kurzweiliges Thema für den Stammtisch und es kann die Stimmung auf einer Party ruinieren. In einem alten Kirchenlied zum Ewigkeitssonntag heißt es: "O Ewigkeit, du Donnerwort!" Die Erinnerung an den Tod und was danach kommt, weckt uns auf aus dem Alltagstrott wie ein plötzliches Donnergrollen an einem heißen Sommertag. Einmal werde ich mich verantworten müssen vor dem Schöpfer und Herrn der Welt. Dann werde ich auch die Rechnungen begleichen müssen, um die ich mich hier in diesem Leben gedrückt habe.

"Ach, mit dem Tod ist alles aus!" so verdrängt man die donnernde Stimme, die uns mahnt: "Bist du bereit für die Ewigkeit?" Oder man schiebt den Gedanken auf die lange Bank: "Darum kümmere ich mich, wenn ich alt geworden bin!" Aus dem Ewigkeitssonntag wurde auf diese Weise der Totensonntag. Man erinnert nicht so gern an die Ewigkeit, sondern schaut zurück auf das Leben der Verstorbenen und auf Glück und Leid, das sie durchlebten. Doch die Mahnung der Ewigkeit lässt sich nicht verdrängen. Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt - so heißt es im Prediger Salomo (Pred 3, 11). Tief in unserem Denken liegt das Wissen verwurzelt: Die siebzig oder achtzig Jahre auf diesem Planeten können nicht alles sein. Es muss noch mehr geben.

Eine Generation nach dem Lied "O Ewigkeit, du Donnerwort!" nahm sich Kaspar Heunisch das Lied von Johann Rist erneut vor und dichtete es um. "O Ewigkeit, du Freudenwort" sang er. Und beides ist wahr. Zwischen beiden Liedern liegt die Begegnung mit Jesus. Im Licht seines Kreuzes erscheint die Ewigkeit nicht mehr als der Ort der Strafe. Jesus hat mit seinem Tod am Kreuz das Sühnegeld bezahlt und die Tür zum Paradies wieder geöffnet. Im Vertrauen auf ihn  bedeutet "Ewigkeit" nicht mehr: "Ich werde büßen müssen!" Für alle, die an Jesus glauben bedeutet Ewigkeit: Ich darf bei Gott leben. Jesus schenkt mir ein gültiges Visum für ein Land ohne Leid und Not, ohne Tumore und langsames Sterben.

Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt. Unser Herz weiß um das Leben ohne Ende nach dem Tod. Und vielleicht kann man im Hinblick auf so viele Fehlschläge in der Krebsforschung und -behandlung sagen: Gott hat die Ewigkeit auch in unsere Körperzellen und Gene gelegt. Bisher konnte weder der Grund für das Altern des Menschen gründlich aufgeklärt werden noch die Ursache für das wilde, zerstörerische Zellwachstum in Tumoren. Einerseits altern Körperzellen und sterben ab und mit ihnen wird der gesamte Organismus dem Altern und Sterben unterworfen. Andererseits beginnen gerade im Alter einige Körperzellen wild zu wachsen und entziehen sich der Steuerung des gesunden Organismus - mit ebenso zerstörerischen Folgen. Die Ursachen konnten bisher kaum erforscht werden und damit bleiben die Möglichkeiten zur Heilung begrenzt. Es mag unwissenschaftlich klingen - doch vielleicht lässt sich hier erkennen, dass wir an die Grenze stoßen zur Ewigkeit. Ursprünglich waren unsere Körper gemacht für die Unsterblichkeit. Doch dann wurde gewissermaßen eine Sperre eingefügt. Damit sind unsere sterblichen Hüllen der Vergänglichkeit unterworfen. Erst in der Ewigkeit, erst nach dem Tod werden wir einen unsterblichen Körper wiederbekommen.

Hier liegt der Trost für alle Krebskranken und -opfer, für die die Medizin noch keine Hilfe bieten kann. Krankheit und Tod bilden in unserer Welt das Tor zum Leben ohne Ende - zur Ewigkeit. Dieser Gedanke lässt sich denken, denn Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt. Doch der Gedanke fällt mir schwer. Zu sehr klebe ich an diesem Leben. Zu schnell überwältigt mich die Furcht vor dem strafenden Gott, dem ich in der Ewigkeit begegnen werden. Zudem fällt es schwer, an Gottes Vergebung zu glauben und an die Eintrittskarte für die himmlische Festtafel, die Jesus uns ganz umsonst schenken will.

In der letzten Strophe eines Abendliedes heißt es: "O Ewigkeit, so schöne, mein Herz an dich gewöhne." Es braucht Gewöhnung, dass ich meine Tage gehen kann mit einem sehnsuchtsvollen Blick auf die Ewigkeit.  Es mag ironisch klingen - aber eine Krankheiten wie Krebs kann helfen bei diesem Gewöhnungsprozess. Diese Diagnose mahnt unüberhörbar: deine Tage sind gezählt. Um so mehr freue ich mich über die Hoffnung, an die der Ewigkeitssonntag erinnert. Die Tür zu Gottes ewiger Welt steht offen. So viele sind mir bereits im Glauben vorausgegangen. Einmal werden auch ich die Pracht und Herrlichkeit sehen können, die Gott für seine Kinder vorbereitet hat. Mit dieser Hoffnung vor Augen, kann ich dankbar die Tage leben, die Gott mir noch auf dieser Welt gibt. Durch das Können der Ärzte und durch die Möglichkeiten der modernen Medizin habe ich möglicherweise noch einige Jahre oder sogar Jahrzehnte hinzu geschenkt bekommen. Das ist Zeit, die ich nutzen kann für die Aufgaben, in die Gott mich stellt. Aber die Hoffnung und Sehnsucht greifen weiter voraus, dorthin wo ich in der Ewigkeit zu Hause sein werde. Und sollte diese Krankheit wiederkommen oder eine andere sich einstellen, dann rückt die Reise nach Hause näher.

Mittwoch, 3. November 2010

Von Hämoglobinwerten und Adlersflügeln

Vertreiben sich Fremde die Zeit mit einer Diskussion über ihre Blutwerte, dann sitzt man vermutlich im Wartezimmer einer onkologischen Arztpraxis. Ich höre mir an, wie es den beiden Damen neben mir ergangen ist mit Hämoglobinwerten unter acht. “Man fühlt sich den ganzen Tag lang schläfrig und antriebslos und in der Nacht will sich der Schlaf nicht einstellen, weil man am Tag zu viel geschlafen hat.”  So kenne ich das auch und beschließe mitzureden. “Ja, man fühlt sich wie im Hochgebirge auf über 3000m.” Damit können die Damen nichts anfangen. Noch ein Versuch: “Ich schleiche durch die Wohnung wie ein 80jähriger.” Das findet zumindest die eine nicht lustig, da sie dem Augenschein nach von diesem Zustand nicht mehr weit entfernt ist - auch ohne Blutarmut. Also gut, dann verlege ich mich wieder auf das Zuhören. Die eine Dame erläutert ihre Lösung für das Problem. Von Bekannten wurde ihr ein Kristall empfohlen. Jetzt trägt sie diesen Stein an einer Kette immer um den Hals - und siehe da, ihre Hämoglobinwerte pendelten sich bei gesunden dreizehn ein. Was soll man davon halten? Hat ihr Körper tatsächlich auf den Kristall reagiert? Ist es der Glaube an die Macht der Kristalle, der für schnelle Blutbildung sorgt oder wären ihre Blutwerte auch ohne den Stein wieder gestiegen? Rings um die Diagnose Krebs blüht der Aberglauben. Je auswegloser die Lage erscheint, desto mehr vertraut man auf Wunderheilmittel.

Ich habe bei zu geringen roten Blutkörperchen bisher auf das Mittel der Ärzte vertraut - Bluttransfusion. Zwei Beutel mit “Erythrozyten” als Infusion in den Blutkreislauf erfordern zwei Stunden sitzen und warten, bis der rote Saft in die Venen getropft ist. Das bewirkt Wunder. Plötzlich kommt die Kraft zurück und man fühlt sich von früherem Tatendrang eingeholt. 

Eine solche Bluttransfusion erinnerte mich an Worte aus dem Propheten Jesaja, in denen neue Kraft beschrieben wird mit einem Bild aus der Natur.
  •  Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden. (Jes 40, 30-31)
Das Vertrauen auf Gottes Hilfe und Führung kann neue Kraft schenken, die in die Höhe fliegen lässt wie auf Flügeln von Adlern. Von dort oben, erscheinen unsere Sorgen und unlösbaren Probleme dann klein und leicht zu überwinden. Was aber wenn eine unheilbare Krankheit das Leben zerstört? Was helfen dann noch die Flügel von Adlern? Was ändert das Vertrauen auf Gott, wenn er offenbar doch nicht eingreift in das zerstörerische Werk der Natur? Die Adler fliegen so hoch, dass sie über die Berge schauen können, die uns am Horizont den Blick verstellen. Die auf den HERRN harren, schauen im Glauben hinüber. Sie wissen von der Freude, die Gott uns nach diesem Leben in der Ewigkeit schenken will, in einer Welt ohne Mühsal und Leid, ohne Krankheit und Tod. Mit diesem Blickwinkel verlieren die Leiden dieser Zeit ein Stück ihrer Schrecken.

Dann bin ich dran mit der Blutkontrolle und bekomme eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute bezieht sich auf die weißen Blutzellen - die sind wieder da und am Steigen. Meine Immunabwehr kommt also wieder in Gang. Die schlechte Nachricht: der Hämoglobinwert liegt auf glatt sieben. So tief war er lange nicht. Damit ist klar, warum ich mich so schlapp fühle. Mitten in der Chemotherapie wäre jetzt eine Bluttransfusion angesagt gewesen, um schnell fit zu werden für den nächsten Hammer. Jetzt, nach der Chemo, drängt der Arzt nicht zu solchen Mitteln. Da ich vor der letzten Bluttransfusion tatsächlich den Zettel mit den Risiken und Nebenwirkungen gelesen hatte, bin ich auch nicht scharf drauf. Also wird’s nichts mit den Adlersflügeln für diesmal - jedenfalls nicht mit denen aus der Blutkonserve.

Montag, 1. November 2010

Umzug

Die letzten Beutel und Taschen stopfe ich im Kofferraum unseres Autos unter die Decke und auf der Rücksitzbank zwischen die Kindersitze. Hier passt nichts mehr rein. Der Nachbar beobachtet die Pack-Aktion und fragt neugierig, ob wir noch Platz für die Kinder gelassen hätten. Haben wir und die Kinder sitzen auch schon in ihren Babysitzen. Dann kann es endlich losgehen.

Für meine Frau ist es ein schwieriger Abschied. Fast ein halbes Jahr hat sie mit den Kindern jetzt hier im Schwarzwald im Haus ihres Bruders und in ihrer alten Heimat gewohnt. Sie konnte manche alten Bekanntschaften auffrischen und hat in diesem schwierigen Sommer viel Hilfe erfahren. Die Kinder haben hier gelernt sich hinzusetzen und auf allen Vieren die Stube zu erobern. Der Opa hat eifrig begonnen Sohnemann durch den Flur laufen zu lassen - gestützt von zwei Händen natürlich. Meiner Frau und ihrer Familie fällt der Abschied schwer.

Ich will nur weg. Schade, aber für mich schmeckt hier alles nach Chemo. Wenn ich aus der Klinik kam, musste ich das Bett hüten und konnte kaum etwas essen. Mit den Kindern spielen war kein Vergnügen und ging über die Kräfte. Wenn es mir wieder besser ging, war bald der nächste Block Chemo fällig. Ich hoffe, diese Erinnerungen werden nicht für immer mit der Nagolder Gegend und der Familie dort verbunden bleiben. Aber für heute muss ich weg, weit weg.

Es ist schon längst dunkel, als wir mit schreienden Kindern im Allgäu ankommen. Für die nächsten Tage wird unsere Wohnung wie eine Karawanserei aussehen. Die doppelte Haushaltsführung hat so einiges an zusätzlichem Küchengerät gebracht. Die Kinder “helfen” in den nächsten Tagen mit Begeisterung beim Auspacken und Einräumen.

Montag, 25. Oktober 2010

“Wir haben Sie geheilt!”

“Wir haben Sie geheilt!” Das waren die Abschiedsworte des Stationsarztes. “Seine Worte in Gottes Ohr!” denke ich zuerst. Dann sollte ich eigentlich vor Freude tanzen und die ganze Welt umarmen. Ich werde als geheilt entlassen. Doch mir ist nicht nach Jubel zumute. Vielmehr kann ich kaum die Kraft aufbringen, um aus dem Bett zu kommen. Es gibt da offenbar einen Unterschied zwischen “geheilt” und “gesund”. Wenn ich nicht schon aus Erfahrung wüsste, dass die unmittelbaren Nebenwirkungen der Chemo bald nachlassen werden, würde ich noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.  Man kann getrost sagen, dass mich die Ärzte mit ihrer Behandlung in dieser Woche mal wieder so richtig krank gemacht haben. Das ist der erste Eindruck. Doch der äußerliche Eindruck täuscht. Die Ärzte haben mich in sofern geheilt, dass sie die Krebszellen abgetötet haben mit ihren Medikamenten (hoffentlich alle, sodass sich keine erneut vermehren können). Was mich jetzt krank macht, sind allesamt Nebenwirkungen der Chemo. Die Zeit muss jetzt die vielen kleinen Wehwehchen heilen oder die Reha (“Anschlussheilbehandlung”) Ende November. Bis ich wieder gesund bin, können noch Monate in’s Land gehen.

Trotzdem, wenn die Worte des Stationsarztes eine Art Abschlussdiagnose darstellen, dann gibt es viel Grund zur Dankbarkeit. Dankbar bin ich für die Kunst der Ärzte und die Betreuung in der Klinik. Dankbar bin ich für die vielen kleinen Handgriffe der Schwestern, die dafür gesorgt haben, dass die Infusionen richtig liefen. Vor allem gilt der Dank Gott, meinem Ober-Arzt. IHM danke ich, dass er die Hand der Ärzte bei allen Entscheidungen geführt hat und dass es zu keinen Komplikationen und Zwischenfällen gekommen ist, die eine erfolgreiche Behandlung verhindert hätten. IHM kann ich auch die Sorge anvertrauen, ob wirklich alle Krebszellen abgetötet werden konnten und dass die Krankheit nicht erneut ausbricht.

“Wir haben Sie geheilt!” Da schwillt die stolze Brust des Mediziners und sie können ja wirklich stolz sein. Durch das Können der Hämatologen ist Blut- oder Lymphknotenkrebs nicht mehr das Todesurteil, der er noch vor einer Generation war. Doch dieser Stolz bekam in den letzten Tagen einen faden Beigeschmack. Die Ärzte wollen mich nicht gehen lassen. Es stehen noch einige Behandlungen und Nachuntersuchungen an, die ambulant durchgeführt werden. Dazu hatte ich auf eine Überweisung aus Sindelfingen zu einem Arzt in der Nähe unseres Wohnortes gehofft. Doch die Überweisung blieb aus. Als ich mich selbst um eine Arztpraxis in Wangen kümmerte, war die Reaktion der Krankenhausärzte eher frostig. Sie scheinen allen Ernstes zu erwarten, dass ich wegen der ambulanten Termine jeweils die 250 km vom Allgäu nach Sindelfingen fahre, wenn ich diese Untersuchungen auch mit 2 km Fahrweg vor Ort haben kann. Da scheint unter den Ärzten noch echte Kleinstaaterei zu herrschen.

Ich darf nach Hause. Die nächste Woche über werden wir noch im Schwarzwald wohnen, wo Frau und Kinder für die vergangenen Monate eine vorübergehende Bleibe bei der Verwandtschaft gefunden haben. Und bald können wir ganz zurück in unser zu Hause in Wangen. Für die nächsten Wochen gilt allerdings erstmal die Warnung des Chefarztes: “Werden Sie nicht leichtsinnig!” Die Immunabwehr des Körpers wird auch diesmal wieder in den nächsten Tagen zusammen brechen. Die  Gefahr einer Infektion besteht auch nach der letzten Chemo. Trotzdem: Die Ärzte gehen davon aus, dass sie den Krebs geheilt haben. Gott sei Dank!

Montag, 18. Oktober 2010

Chemo Nr. 6

Zwei Wochen in der Freiheit gingen viel zu schnell vorüber. Die erste Woche verbrachten wir in Wart im Schwarzwald bei Claudias Bruder. Die Ärzte wollten, dass ich noch in der Nähe der Klinik bleibe. Claudia hatte nicht nur einen kranken Mann zu versorgen, sondern auch kranke, verschnupfte Kinder. In der zweiten Woche habe ich mich für die Blutkontrolle in Wangen angemeldet in der Praxis, die vielleicht für die nächsten Jahre die Nachsorge übernehmen kann.
Das letzte Wochenende brachte einiges an Abwechslung. Pastor Kubitschek kam zur Vertretung in den Süden. So hatten wir einen Gottesdienst in Vorarlberg und Gäste zur Übernachtung und am Sonntag noch einen Gottesdienst mit zwei Taufen in Stuttgart. Für einen routinierten Pastor bringt es eine ganz eigene Erfahrung, wenn man in der Kirchenbank sitzt. Eigentlich wäre es ja meine Aufgabe  - und meine Freude - gewesen, die Kinder zu taufen. Immerhin wurde ich gebeten, das Patenamt zu übernehmen. Man scheint doch damit zu rechnen, dass ich noch ein paar Jahre gesund sein werde ;-)

Heute geht's wieder in die Klinik zum nächsten Block der Chemotherapie. Diesmal ist's das letzte Mal. Endspurt sozusagen. Gott kann es schenken, dass die letzten Infusionen auch die letzten lebenden Krebszellen abtöten, die möglicherweise bis jetzt überlebt haben.

Wenn ich in einer Woche nach Hause komme, werde ich vielleicht schon keine PICC-Line mehr an meinem Arm haben (der Schlauchanschluss für die Infusionen). Dann könnte ich theoretisch wieder schwimmen gehen und nachholen, was ich im Sommer verpasst habe. Nur, dass jetzt die Blätter fallen und die Herbstnebel nicht mehr zum Badengehen einladen.

Montag, 4. Oktober 2010

Fachchinesisch

Rituximab, Vincristin, Methotrexat, Dexamethason, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Cytarabin - so liest sich im Arztbrief die Liste der Medikamente, die mir im Verlauf der letzten Woche in die Adern gepumpt oder in das Gehirnwasser gespritzt wurden. Beim Reigen so klangvoller Namen kann man ja nicht anders als gesund werden. Nunja, die meisten dieser Medikamente - oder sollte ich “Gifte” sagen - gehören zur Gruppe der Zytostatika. Was sie tun, kann der Arzt offenbar dem Laien nicht wirklich erklären. Wer genauer nachfragt, bekommt Hinweise auf die Mechanismen in den Zellen, die bei der Zellteilung die Erbinformation (DNA) verdoppeln und an die neu entstehenden Zellen weitergeben. Die Medikamente der Chemotherapie greifen an verschiedenen Stellen in diese Mechanismen ein, um die Verdopplung der DNA zu vereiteln und so die Zellteilung zu verpfuschen. Was übrig bleibt wird über die Nieren und den Gang zum Örtchen ausgeschieden. Um diese Ausscheidung am Laufen zu halten, gab es in der vergangenen Woche zudem noch literweise Infusionen mit Kochsalzlösung und Zuckerwasser. Der Cocktail von so vielen verschiedenen Medikamenten wird notwendig, weil die Krebszellen schlau sind. Einige entwickeln die Fähigkeit, die auf sie abgefeuerten tödlichen Gifte zu erkennen. Wie mir der Arzt sagte, bauen sie “Pumpen” an ihre Zellwände, die das Gift nach draußen befördern. Das gelernt und überlebt, werden die Zellen resistent - also unempfindlich gegen ein bestimmtes Mittel. Da die gelernte Information an die Tochterzellen weitergegeben wird, können sich ganze Stämme von Krebszellen bilden, denen eines der Mittel nichts mehr anhaben kann. Daher hilft zum Auslöschen der Krebszellen, wenn bald noch ein ganz anders geartetes Gift hinterherkommt, dass hoffentlich nicht auch entdeckt wird und doch zum Absterben der schlauen Krebszelle führt.

Dummerweise hören nicht nur die Krebszellen auf die Totenglocken der Zytostatika. Alle Körperzellen, die gerade wachsen, sind betroffen - auch die ganz normal wachsen sollen. Die Haare können nicht mehr weiter wachsen und fallen aus. Daran erkennt man ganz offensichtlich Chemo-Patienten. Aber auch Schleimhäute leiden unter dem Dauerbeschuss. Die Zunge wird taub und auch das beste Essen schmeckt wie Gummi mit Seife. Wenn es dumm kommt, bilden sich wunde, schmerzende Stellen im Mund und im Rachen. Dagegen hilft nur mehrmals täglich eine peinlich genaue Mundhygiene. Der Magen will nicht mehr und schickt die Kalorien retour. Auch die Darmschleimhäute bekommen ihr Teil und verweigern den Dienst. Die Fingerkuppen werden wund, sodass die Tastatur des Computers nur noch mit langen Fingernägeln bedient werden kann. Manchmal ziehen die Kuppen der Zehen nach, sodass man keine Schuhe mehr anziehen kann. Davor bin ich bisher allerdings verschont geblieben. All das sind für den Arzt kleine Wehwehchen und es gibt eine Spritze hier oder eine Salbe da und man kann sich trösten mit der Hoffnung, dass es in einer oder zwei Wochen wieder besser gehen wird.

Der eigentliche Ärger, den auch die Ärzte mit wachem Auge beobachten, kommt an anderer Stelle: Auch die Bildung neuer Blutzellen gerät aus dem Gleichgewicht, sodass es bald an weißen Blutkörperchen mangelt oder auch an den roten oder dass Blutplättchen fehlen und noch so einige andere Bestandteile einer gesunden Blutbildung. Das kann lebensbedrohlich werden. Das Immunsystem versagt seinen Dienst (die weißen Blutkörperchen), es kann zu unkontrollierten Blutungen kommen (die Blutplättchen) und das Atmen fällt schwer (die roten). Um diese Entwicklung zu begleiten und ggf. Gegenmaßnahmen einzuleiten, ruft man mich auch nach der Entlassung aus der Klinik zwei Mal in der Woche zur Blutkontrolle zurück ins Krankenhaus. Neulich las ich, dass es wohl bis zu einem halben Jahr dauern kann, bis sich all diese Verschiebungen wieder normalisiert haben.

Der weitverbreitete Zelltod im Körper nach einer Chemo-Behandlung bewirkt die allgemeine Kraft- und Mutlosigkeit, die die Chemotherapie zu einer Rosskur macht, die wohl nur zu ertragen ist mit der festen Hoffnung, dass Heilung am Ende der Behandlung steht. Ich kann gut verstehen, wenn Krebskranke Chemotherapien abbrechen oder ganz verweigern, wenn es doch keine Hoffnung auf Genesung gibt. Was ist schwerer zu ertragen: der schleichende Tod, den ein Tumor mit seinen Metastasen bringen kann oder eine Behandlung, die Schritt für Schritt auch das Lebenslicht ausbläst? Kommende Generationen werden möglicherweise zurückblicken auf die Chemotherapien unserer Zeit wie wir auf Aderlass und Blutegel im Mittelalter. Man wird vielleicht den Kopf schütteln und denken: “wussten die damals nicht, dass Krebs .....” Wer den Satz heute schon zutreffend zu Ende führen kann, dürfte ein Kandidat für den Nobelpreis sein.

Nach einer letzten Dosis Zytostatika ins Gehirnwasser werde ich entlassen. Zu Hause darf sich mein geschundener Körper erholen bis er reif ist für die nächste Chemo. Meine Frau hat mit den Kindern das Wochenende mit dem Tag der Deutschen Einheit als gute Schwäbin in Sachsen verbracht. Es trifft sich, dass sie gerade auf der Autobahn den Raum Stuttgart erreicht, als ich fertig bin für die Entlassung. So holt sie einen Ehemann aus dem Krankenhaus, dem es vor einer Woche noch recht gut ging und der jetzt wieder auf dem Zahnfleisch kriecht.

Samstag, 2. Oktober 2010

Testergebnis: unbezahlbar

Befund negativ! Auf diese gute Nachricht wartet so mancher Patient, wenn Tests durchgeführt und Proben eingeschickt wurden. "Negativ" heißt in dem Zusammenhang: es wurde keine Krankheit (mehr) gefunden, was in den meisten Fällen eine recht positive Nachricht darstellt.

Das Material aus meiner neuesten Knochenmarkpunktion wurde nicht nur im heimischen Labor des Krankenhauses ausgewertet, sondern auch in ein Speziallabor nach Kiel geschickt. Was die Befunde angeht, gibt’s eine Enthüllung eigener Art. Am Beginn meiner Behandlung wurde eine Anzahl von etwa 10 hoch 12 erkrankter Zellen in meinem Körper gefunden (bzw. hochgerechnet) - also eine 1 mit 12 Nullen. Im hauseigenen Labor können nur entartete Zellen nachgewiesen werden über einer Anzahl von etwa 10 hoch 9. Wenn es weniger sind, bleiben sie unerkannt. Diese Zahl war in meinem Fall schon nach dem zweiten Block der Chemo unterschritten, was auf ein gutes Ansprechen der Behandlung deutet. Diesmal wurde eine Probe nach Kiel eingeschickt, wo Molekularuntersuchungen durchgeführt werden, um einen sogenannten MRD-Wert zu bestimmen - was so viel heißt wie “minimale Resterkrankung”. Mit den aufwändigen Methoden eines Speziallabors können auch Krebszellen in deutlich kleineren Zahlen nachgewiesen werden, die sich irgendwo im Körper versteckt halten.

Und der Befund? Negativ: die Krankenkassen bezahlen diese Untersuchung nicht. Als sich die Behandlungsmethoden noch in der Testphase befanden, wurden solche Untersuchungen aus öffentlichen Fördertöpfen bezahlt, sagte mir der Arzt. Aber diese Töpfe sind leer. Folglich wird meine Probe in Kiel nur auf Eis gelegt. Falls die Leute im Labor mal nichts anderes zu tun haben, könnte es sein, dass sie einen Befund schicken. Läuft also meine Behandlung jetzt im Blindflug weiter?

Es hat wohl seinen Grund, warum die Krankenkassen solche aufwändigen Tests nicht bezahlen. Beim Stöbern im Internet las ich, dass diese Tests ein Testergebnis “positiv” zeigen können ab einer Anzahl von 100 000 erkrankten Zellen . Was darunter liegt, bleibt auch dem Labor in Kiel verborgen. Man muss sich vorstellen, dass ein Rest von einer handvoll entarteter Zellen ausreicht, um die Krankheit erneut ausbrechen zu lassen. Theoretisch würde eine einzige überlebende Krebszelle genügen. Folglich hätte ein “negativ” aus Kiel keine beruhigende Aussagekraft. Ob nach der Chemotherapie noch eine Rest-Krankheit vorhanden ist, wird man erst zuverlässig sagen können - Test hin, Test her - wenn sich in zwei Jahren keine Zellen vermehrt haben werden und die Krankheit nicht erneut ausgebrochen sein wird. Es bleibt also abzuwarten, ob Mr. L nach der letzten Chemo völlig aus meinem Körper ausradiert wurde. Gott möge es schenken. Und die Krankenkassen sollen ihre begrenzten Mittel besser für wichtige Heilbehandlungen ausgeben.