Kurz vor fünf kommt die Schwester bereits mit den Tabletts für das Abendessen. Ich habe meine Tasche längst gepackt, mich angezogen und könnte schon zu Hause mit den Kindern spielen. “Wollen Sie noch Ihr Abendessen?” fragt sie und bekommt eine patzige Antwort. “Der Arztbrief wäre mir lieber!” Sie kann ja nichts dafür, dass auf Station so manche Abläufe auch mit Bürokratie zu tun haben. Der Arzt muss mir noch meinen Arztbrief zusammenstellen. Eher kann ich dieses heilende Haus nicht verlassen. Leider hat er noch anderes zu tun und ich darf warten. Immerhin hat er sich darauf eingelassen, mich heute noch heim zu schicken. Ursprünglich wollte er mich noch eine Nacht da behalten, da ich heute Nachmittag noch einige Spritzen für das Gehirnwasser in den Rücken bekommen habe. “Intrathekale Gabe” nennt sich das im Fachjargon. Mein Zimmernachbar musste sich das mit ansehen und hat darauf dem Oberarzt die Zusage abgerungen, dass bei ihm so etwas nur unter Betäubung gemacht werden darf. Nun, es sieht wohl schlimmer aus als man es selbst spürt - zumindest, wenn alles gut geht. Wie gut, dass ich hinten keine Augen habe.
Am vergangenen Wochenende hatte der Chefarzt selbst Dienst übernommen und mir einige Infusionen angehängt. Auf die Art bin ich noch zu meiner Chefarzt-Visite gekommen. Dabei kam die Rede auf den Fortgang der Behandlung. Er hätte sich neulich meine Befunde dreimal angeschaut, weil sie so gut aussahen. Ich hoffe, das ist nicht nur eine ermutigende Redewendung. Dann regte er an, in der kommenden Woche schon mal mit den nötigen Stellen Kontakt aufzunehmen, damit ich nach der letzten Chemo eine Heilbehandlung zur Wiederherstellung bekommen kann - was man landläufig eine Kur oder Reha nennt. Drei Wochen würden mir zustehen. Alle schwärmen von Kuren, die immer seltener verschrieben werden. Mir erscheint der Gedanke derzeit nicht besonders verlockend. Nachdem ich den besseren Teil dieses Sommers in Krankenhausbetten zugebracht habe, verspüre ich wenig Verlangen, im Spätherbst nochmal drei Wochen “stationär” zu gehen. Die Hoffnung, wieder normal zu Hause leben zu können, erscheint mir momentan als die beste Kur. Immerhin gäbe es auch die Möglichkeit, an Kurbehandlungen ambulant teilzunehmen. Vielleicht bietet eine der Kurkliniken in unserer Nähe im Allgäu diese Möglichkeit.
Wie auch immer die Reha für mich ausfallen wird, es war eine Wohltat über die Tage nach der letzten Chemo zu reden. Es scheint ein Leben nach der Chemotherapie zu geben. Zumindest halten die Ärzte das in meinem Fall für möglich.
Noch vor um sechs ruft mich der Arzt aus dem Zimmer, das ich eine Woche lang nicht verlassen durfte. Mein Zimmernachbar war aufgrund seiner Blutwerte isoliert worden und ich war mitgefangen bzw. mit ihm “umkehrisoliert”. Und schon halte ich meinen ersehnten Entlassungsbrief in der Hand. Zwei Mal soll ich zur Blutkontrolle in die Ambulanz kommen in den nächsten zwei Wochen und Ende September heißt es dann wieder “stationär”. Na, bis dann “Auf Wiedersehen” in Sindelfingen.
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